· 

Europa und der Stier

Stierkopf
Am Nachmittag um fuenf Uhr, 50 cm x 70 cm, Acryl auf Baumwolle, 2008

Mit den Worten „A las cinco de la tarde...“ (Am Nachmittag um fünf Uhr) beginnt das Gedicht „La cogida de la muerte“ des spanischen Lyrikers Federico Garcia Lorca (1898-1936). Es beschreibt seine Trauer über den Tod des Freundes Ignacio Sánchez Mejías. Der Torero, der ebenso wie Lorca Schriftsteller war, starb an den Folgen einer Verletzung, die er sich beim Stierkampf zuzog. Das Klagelied über den tragischen Tod des Freundes, sollte Jahre später anlässlich des Todes Lorcas gesungen werden, nachdem dieser von spanischen Faschisten ermordet worden war.

 

Gewöhnlich kommen die Stiere bei den Corridas de toros in den Arenen zu Tode. Nur selten passiert es, dass ein Stierkämpfer, wie im Fall von Ignacio Sánchez Mejías, von einem Stier tödlich verletzt wird. In der Regel geht der Stierkämpfer und niemals der Stier als Sieger hervor. Der Stier, der Ignacio Sánchez Mejías die tödliche Wunde herbeiführte, wurde nicht etwa als Sieger gefeiert und entging nicht der für seinesgleichen vorbestimmten rituellen Tötung. Letztlich muss also der Stier in der Arena sterben.

 

Eine Erklärung für diese wesentliche Bedingung lässt sich nicht einfach über das denkbare historische Vorbild von Tierhetzen der römischen Antike finden. Denn der Stier galt nicht allein als ein außergewöhnlich kräftiges und kampffähiges Tier, sondern vor allem als ein heiliges Tier, das die Sonne bzw. den Sonnengott selbst symbolisierte. Seine weibliche Entsprechung, die Kuh, symbolisierte dagegen den Mond und damit auch die Göttin des Mondes. Stier und Kuh symbolisieren das göttliche Herrscherpaar, das die Geschicke der Welt gestaltet und lenkt. Ihr Dasein garantiert damit auch das Dasein und Überleben des Menschen. Im Umkehrschluss bedeutet demnach der Tod von Sonne und Mond das Ende der Menschheit. Insofern symbolisiert der rituelle Tod des Stiers den alltäglichen Untergang (Tod) der Sonne.

 

Im römischen Mithraskult bildet die Tötung des Stiers das Hauptmotiv. Die Stiertötung ist auch ein wichtiges Motiv im Gilgamesch-Mythos. Nachdem sich König Gilgamesch der „Heiligen Hochzeit“ mit Ischtar verweigert, sendet sie den Himmelsstier, den jedoch Gilgamesch gemeinsam mit seinem Freund Enkidu besiegen kann. Hier spiegel sich vermutlich ein Kampf der männlichen Helden gegen die alte (matriarchalische?) Ordnung wieder, die Ischtar, der Morgen- und Abendstern, die „Göttin aller Göttinnen“, versinnbildlicht. Im Sieg über den Himmelsstier manifestiert sich das neue patriarchalische Ordnungssystem, ein Sieg, der sich in verschiedenen Heldensagen wiederholt: Herakles besiegt einen gewaltigen Stier. Ebenso Jason, der in Kolchis einen Stier bändigt und vor einen Pflug spannt. Theseus gelingt es mithilfe von Ariadne, den aus der Verbindung eines göttlichen Stiers und der Königin Pasiphae hervorgegangenen Minotaurus zu töten. Zeus wiederum verwandelt sich in einen Stier, um Europa zu entführen.

 

Aus dem sich immer wieder wiederholenden Zwang, Stiere zu töten, spricht auch die Ungewissheit eines männlichen Machtanspruchs. So zeichnet sich womöglich mit den zunehmenden Verboten von blutigen Stierkämpfen der Niedergang der patriarchischen Ordnung an.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0