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Mythen bilden

nackter Mann
Kain, 80 cm x 100 cm, Gouache auf Baumwolle, 2004

 Ob und inwieweit Mythen Wahres enthalten, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Wahrheit offenbart, beschönigt, verborgen oder verfälscht werden soll. Bei einer historischen Quelle verhält es sich nicht anders. Der zunehmend negativ behaftete Begriff des Mythos verführt zu der Annahme, es dabei mit etwas Unwahren zu tun zu haben. Sei es nun der historische, religiöse oder politische Mythos, allesamt bilden sie die Wahrheit des Mythenerzählers ab. Die kann, muss aber nicht mit Tatsachen übereinstimmen. Aber, wann immer es um die Erklärung der Welt geht, sollten wir uns dabei unserer eigenen Sinne erinnern und fragen, ob diese mit dem Mythos in Einklang zu bringen sind.

 

Bei näherer Betrachtung eines Mythos kommen uns Zweifel, da die Erzählung im Widerspruch zu unseren eigenen Erfahrungen und unserem Wissen steht . Das entspricht aller Wahrscheinlichkeit nicht der Absicht des Erzählers, ist aber im Hinblick auf die Wertigkeit des Mythos vollkommen unerheblich. Wichtig ist allein, ob und was wir aus dem Mythos an Wahrheit für uns selbst gewinnen können.

 

Ich erinnere sehr gut, als meine Großmutter von den letzten Stunden Jesus erzählte, so eindringlich, als ob sie selbst dabei gewesen sei. Mehr als die Behauptung, besagter Jesus sei gekreuzigt worden, berührten mich die beschrieben Qualen eines Menschen, sah ich dessen blutenden und schwitzenden Körper bildlich vor mir. Ich fühlte und starb mit ihm. Dabei kannte ich den Mann gar nicht. Aber meine Großmutter verhalf mir zu der Vorstellung einer Seelenverwandtschaft. Auf der anderen Seite wirkten seine Gegenspieler – die Römer im Allgemeinen, Pilatus im Besonderen, der Hohepriester Kajaphas und diejenigen, die auf Befehl Hand anlegten – äußerst schwach auf mich: wie seelenlose Marionetten. Es ist seltsam. Mein Mitgefühl gilt in erster Linie den Opfern. Das trifft bisweilen auch auf vermeintliche Täter zu, wie beispielsweise auf Kain, der, wie es der Mythos vom ersten Brudermord erzählt, Abel erschlug. Nicht wenige Theologen beharren darauf, Kain habe es verdient, vom Herrn gegenüber Abel benachteiligt zu werden. Denn seine Opfergabe sei zu gering gewesen. Also wurde er dafür zurechtgewiesen. Leidtragender dieser demütigenden Bestrafung Kains war am Ende der vom Vater bevorzugte Bruder. Wesentlicher Bestandteil der Erzählung ist der historische Konflikt zwischen Ackerbauern (Kain) und Viehzüchtern (Abel), bei dem am Ende der Ackerbauer zum Nomaden (Viehzüchter) werden wird: eine wahrhaft verdrehte Welt.

 

Ähnlich verworren ist der Mythos von der von Abraham verstoßenen Sklavin Hagar, deren Sohn Ismael, dank des Herrn, zum Stammvater der Araber wird und damit die Verwandtschaft von Israeliten und Arabern widerspiegelt.

 

Mit all ihren Ungereimtheiten regen Mythen zum nachdenken an und können dabei helfen, den eigenen Standort in der Welt besser bestimmen zu können. Das trifft auch auf historische Quellen zu, welche bei näherer Betrachtung nicht weniger Fragen aufwerfen sollten.

 

 

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